a common space & database for harmonic overtones
Hier ein Text den ich im Nachklang zum Alumni-Treffen von Wolfgang Saus Obertonschülern geschrieben habe; eher einige Gedanken zur Anregung eines Gesprächs und keine ausgefeilte Positionierung:
Einige musikästhetische Überlegungen in Bezug zum Obertongesang
Obertöne zu hören bedeutet eine Sensibilisierung der Wahrnehmung; wo vorher ein Ganzes, eine einzige geschlossene Gestalt war - der Ton - entdeckt man als Obertonanfänger nach einer Weile des Hinhörens eine Fülle von Teiltönen innerhalb dieses einen Tons. Dieser Sensibilisierungsprozess ist wie der Übergang von einem alltäglichen zu einem mikroskopischen Hören, es ist eine Überschreitung einer Wahrnehmungsgrenze. Für einen Obertonroutinier haben sich die Grenzen verschoben: nun gibt es neben der Kategorie des einen Tons noch die Kategorie Teiltöne, von denen in der Regel zwei, nämlich der Grundton und der jeweils betonte höhere Teilton, eine musikalische Rolle spielen. Bei mir persönlich trat an dieser Stelle ein gewisser Verdruss ein: das Hantieren mit zwei Tönen gleichzeitig kenne ich von der Gitarre, es ist nichts Besonderes, Faszinierende für mich. Darüber bin ich darauf gekommen, dass mich gerade der Prozess der Grenzüberschreitung, wie er beim Entdecken der Obertöne stattfindet ästhetisch interessiert, dass hier für mich das Besondere, Faszinierende liegt.
Grenzüberschreitung als ästhetisches Programm
Nun kann man etwas nicht immer wieder neu entdecken; wenn ich mein Hören einmal für die Obertöne geschärft habe, dann steht mir diese Art des Hörens künftig einfach zur Verfügung. Aber ich kann so singen, dass die Grenze immer wieder deutlich in das Bewusstsein der Hörenden rückt. Wie? Mit einer subtilen, nicht überdeutlichen Betonung eines Obertones, wobei der Grundton und weitere Obertöne gut hörbar bleiben. Wie bei einem Kipp-Bild kann die Wahrnehmung dann mal den Ton als gesamte Gestalt, mal die vielen einzelnen Bausteine in den Fokus rücken. Das offene, an der normalen Singstimme orientierte Singen, das Wolfgang zur Zeit für den Chorgesang vorschwebt geht in diese Richtung. Aber auch der sanfte Kehlgesang bei Huun Huur Tu hat häufig diese Qualität der Ambivalenz zwischen übergeordneter Gestalt und Einzelteilen. Bei dem auf maximale Deutlichkeit der Obertöne ausgerichteten Gesang von Hoosoo finde ich sie eher nicht, da steht Eindeutigkeit im Vordergrund.
Bei dem, was mich musikalisch und ästhetisch insgesamt interessiert, spielt Ambivalenz eine große Rolle. Sie erzeugt eine Art Reibung, eine Wachheit, da man ja ständig im Unklaren ist, ob es nun so, oder so ist und man also immer wieder neu einschätzen und beurteilen muss. Höre ich einen Ton, oder ist es doch ein ganzer Akkord? Auch bei der polyrhythmischen Verzahnung mehrerer Rhythmen ergibt sich Ambivalenz: unterschiedliche Betonungen konkurrieren miteinander, bilden ein Spannungsfeld aus Schwerpunkten, bei dem es keine Eindeutigkeit gibt. Bei meinen Auftritten als Musiker übertrage ich dieses Prinzip auch auf meine Erscheinung: ein Mischwesen zwischen Mann und Frau, Mensch und Fabelwesen.
Obertöne zu nutzen ist für mich ein Element in einer Ästhetik der Ambivalenz und Grenzüberschreitung. Diese Ästhetik schlägt sich auch kompositorisch nieder: musikalische Elemente so zu kombinieren, dass Reibung entsteht, Intensität, dass sich Räume des Möglichen öffnen und Lust aufkommt, sie zu erkunden. Meine Botschaft als Künstler ist eindeutig die Mehrdeutigkeit, Obertöne sind da ein wirkungsvolles Mittel.
Und sonst?
Hier schlaglichtartig ein paar musikästhetische Gedanken zu Obertongesang.
Es gibt Paradenummern, also Stücke, in denen der Obertongesang als besondere artistische Fähigkeit vorgeführt wird. Diese beziehen sich häufig auf spezifische existierende Genres: polyphoner Obertongesang im Stil von Bach, ein Oberton-Blues, etc. In kompositorischer Hinsicht sind diese Stücke retro - sie beziehen sich auf eine etablierte Formsprache, die allen geläufig ist, gerade dadurch lässt sich die Beherrschung von Technik und Genre gut demonstrieren. Ob das dann eine Paradenummer ist, hängt natürlich vor allem vom Kontext ab: wird das Stück einfach als Musik gehört, oder steht die Attraktion der technischen Meisterleistung im Vordergrund. Es liegt nahe, bei einer jungen, technisch anspruchsvollen Disziplin wie dem polyphonen Obertongesang den Fokus auf die Präsentation des Könnens zu legen. Indem man die Ästhetik hinten anstellt begibt man sich aber in das Getto der Oberton-Fachleute und wird für "Uneingeweihte" zur kuriosen Zirkusnummer, die wohl bestaunt, aber nicht ernst genommen wird.
Einen Gegenpol dazu bildet das gemeinsame Tönen. Hier spielt Virtuosität in der Regel keine Rolle. Häufig kommt dieses Tönen ohne konkrete musikalische Figuren aus, also ohne melodische Verläufe mit spezifischer Rhythmik. Das Amorphe, Ungreifbare ist meist eine zentrale Qualität. Das Ein- und Ausklingen einzelner Stimmen geht häufig im Gesamtklang unter, Veränderungen im Klangbild sind nicht genau fassbar und die Zusammenklänge so komplex, dass sie sich oft nicht eindeutig einordnen lassen. Ähnlich wie bei der Sensibilisierung des Hörens für die Obertöne findet also auch hier eine Grenzüberschreitung statt, weg von fassbaren Strukturen hin zum Klang, der in den Mittelpunkt gestellt wird. Das Weglassen von Strukturen kann zu einer erhöhten Sensibilität für den Klang führen, oder die Musik zu einer Begleiterscheinung eines entspannenden, gemeinschaftlichen Rituals machen. Das Tönen hat als Praxis eine Nähe zu Techniken der Meditation oder auch Selbsterfahrung und die Ungreifbarkeit der Klangergebnisse legt Assoziationen zum Transzendenten nahe.
Wolfgangs (Saus) Interesse an notierten Chorwerken für Obertonsingende verstehe ich als einen Versuch, diese transzendente Qualität in einen wieder stärker musikalisch strukturierten Rahmen hinüber zu holen. Praktisch können dabei durch die technischen Anforderungen die Leichtigkeit und Unmittelbarkeit des Tönens verloren gehen. Die Musik nimmt im Gegensatz zum Tönen hier wieder die Form des bewusst Gestalteten an, das Ungreifbare findet seinen Platz als eines von mehreren Elementen inmitten eines überschaubaren, nachvollziehbaren Geschehens. Wie flirrendes Licht in einem klaren Raum.
Soweit ich es einschätzen kann setzt Wolfhard (Barke) wiederum ganz woanders an, bei den Ausdrucksqualitäten der sprachfreien Stimme und der strukturierten rhythmischen Improvisation.
Es gibt viele weitere Ansatzpunkte, von denen aus man Obertongesang verwenden kann und ich glaube, dass es gut ist, sich in der musikalischen Praxis auch darüber austauschen, in welche Tradition, in welchen Kontext man sich damit stellt oder auch womit man bricht; welche Bedeutungen man damit verbindet, bzw. ob man "einfach so" musiziert. Meiner Wahrnehmung nach kommen viele derjenigen, die sich für das Obertonsingen interessieren mit Motivationen der Selbsterfahrung, des Erlebens. Aus diesem Blickwinkel sind musikästhetische Überlegungen keine Selbstverständlichkeit, ich hoffe dass deutlich geworden ist, dass sie dennoch eine Bereicherung sein können und würde mich über einen regen Austausch freuen.
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Über meine Suche nach einem Verhältnis zu polyphonem Obertongesang
Ich bin als Musiker jemand, der gern aus der Hüfte heraus musiziert und auch beim Publikum auf die Hüfte zielt; für mich ist ein Konzert vor allem dann gut gewesen, wenn die Leute getanzt haben. Meine Musik soll dennoch auch Gedankenfutter sein und ich schätze auch alle möglichen Arten von Musik, die überhaupt nicht auf Tanz ausgerichtet sind.
Wenn Tanz und Körperlichkeit bei der Musik im Vordergrund stehen, dann braucht es auch beim Musik machen ein gewisses Maß an Körperlichkeit. Musiker einer Funkband z. B. spielen häufig Parts, die sich sehr komplex überlagern, aber die Parts der einzelnen MusikerInnen sind schlichter gehalten als der Gesamtzusammenklang und lassen sich quasi aus der Hüfte spielen.
Um derartige Komplexität als Musiker alleine zu demonstrieren braucht es einen extrem hohen Grad an Konzentration und Kontrolle, sehr feine Körperbeherrschung. Und solche Virtuosität bringt in meinen Ohren den Kopf in den Vordergrund, auf Kosten des Tänzerischen, des "Sich-gehen-Lassens". Das ist grundsätzlich weder gut noch schlecht, aber ich muss es berücksichtigen, der Gestus des Musizierens wird nunmal ein anderer.
Für mich ist das eine Erklärung, warum ich den polyphonen Obertongesang zwar theoretisch interessant finde, aber praktisch nicht so recht damit warm werde. Weil er nicht rockt - zumindest habe ich das bislang weder gehört noch selber zustande gebracht.
Ein weiterer, zusammenhängender Aspekt: Obertongesang ist für mich ein Zugang zu größerer Klangsinnlichkeit, zu einer genaueren Wahrnehmung der Physis des Schalls. Für ein gezieltes polyphones Musizieren mit Obertongesang braucht es aber eine intensive Aneignung von konzeptionellen Routinen: welche melodischen Phrasen sind von welchem Grundton aus möglich, in welchen Tonarten lassen sie sich sinnvoll einbringen, wie kombinieren etc.
Die Töne - Grundton und jeweils melodisch akzentuierter Oberton - sind dann Größen in einem abstrakten tonalen System, ihre Bedeutung erschließt sich aus ihrer Position und ihren Bewegungen innerhalb dieses Systems. Ihr tatsächlicher Klang tritt hinter ihre symbolische Bedeutung in so einem System zurück und hat nurmehr illustrativen Charakter. Damit kann man fantastische Musik machen. Aber wenn es darum geht, den Fokus stärker auf den Klang als solchen zu richten, dann gelingt dies eher in einer schlichten Struktur.
Mir dienen solche Überlegungen als Positionsbestimmung, um mir klarer zu werden, wo ich stehe; meine musikalischen Vorlieben in Beziehung zu setzen zu dem, was andere machen. Dementsprechend geht es nicht um allgemein gültige Aussagen sondern Tendenzen. Die Xhosa-Sängerinnen z. B. rocken trotz stetiger Grundtonwechsel. Diese bewegen sich aber in einem ganz eng abgesteckten Rahmen. Und musikalische Form kann natürlich auch effektiv die physischen Eigenschaften des Klangs herausstellen, aber enorm kultivierte Spiele mit Skalen und Akkordbeziehungen vermitteln einfach etwas anderes als eine archaische Klangerfahrung, berühren auf andere Weise.
Im Kontext treibender, groovender, auf Tanz, Grenzüberschreitung und Ekstase ausgerichteter Musik eignet sich der polyphone Obertongesang also wohl vor allem als Kontrast, als ein Aufspannen des akustischen Horizonts weit nach oben in das Körperlose, Ätherische hinein, um in Kombination mit brachialen, auf den Unterleib zielenden Klängen ein breites, energiereiches Spektrum musikalischen Erlebens aufzuspannen.
Obertongesang im Verhältnis zu persönlichem Ausdruck
Bodo Maass hat darauf hingewiesen, dass Obertongesang eine Möglichkeit sein kann, weniger von sich zu zeigen. Ich finde dies eine sehr interessante Möglichkeit: indem Assoziationen von Persönlichkeit in der Stimme zurück treten, bekommt die Stimme den Charakter eines Instruments und gelangt damit stärker auf eine Ebene mit anderen Instrumenten, mit Dingen. Das stellt heraus, wie wir Menschen eingebunden sind in die Dingwelt, in die Natur, dass wir trotz unserer Denkfähigkeit und Individualität an die physische, materielle Welt gebunden sind. Ich kann zwar eine Melodie aus der Obertonreihe gestalten, aber die Reihe ist mir vorgegeben. Mein Wille, mein Ich stößt hier sofort an Grenzen seiner Gestaltungsmöglichkeiten und mir gefällt es, diese Grenzen künstlerisch deutlich zu machen, da damit implizit auch die Grenzüberschreitung vom Ich zum Alles mitschwingt - eine mögliche Erfahrung von Transzendenz. Mein persönlicher favorisierter Ausdruck liegt also gerade im Ausdruck des Unpersönlichen.
Und natürlich ist auch das in andere Rollen schlüpfen, die Stimme als Maske, interessant, was naheliegt wenn man z. B. wie Wolfhard improvisatorisch unter anderem bei Fantasiesprache, imaginären Worten ansetzt. Oder wenn man, wie ich das tue, mit Masken und Kleidung seine Erscheinung verrückt.
Lieber Gisbert, ich finde deine Ausführungen total spannend und würde mich freuen, wenn noch weitere Obertonsängerinnen und Obertonsänger sich zu deinen Überlegungen äußern würden. Ich finde, dass Obertongesang ein große Möglichkeit zum Improvisieren mit Klang und Tonhöhen darstellt. Da ich leider nicht so sehr mit dem generellen Notationssystem vertraut bin - komme ich mit dem Notationssystem, welches Stuart Hinds beispielsweise benutzt, schnell an meine Grenzen. Ich muss Musik hören - mehrmals hören - dann kann ich das Gesungene nachsingen ... so habe ich wenig Freude daran, eine Chor Komposition einzuüben, wenn meine Tenorstimme, wie ich es häufig erlebe, nur wenig Gelegenheit hat, die Stimme einzuüben. Die neuesten Werke, die um Obertongesang herum komponiert werden, sind genial - aber leider auch mit sehr viel Schweißarbeit verbunden, bis ein Stück zur Aufführung kommen kann ... - diese Mühen habe ich mit Obertongesang Improvisationen nicht ...
Hallo Jens,
es haben sich noch weitere OberetonsängerInnen dazu geäußert, mit deren Erlaubnis füge ich ihre Äußerungen hier an.
Danke auch an Dan für Deinen Beitrag, auch wenn ich da nicht groß drauf eingegangen bin...
Schöne Grüße,
Gisbert
Anna Maria Hefele:
Hallo ihr Lieben,
vielen Dank an Wolfgang und Gisbert für euren Text! habe es mit großem
Interesse gelesen.
was Wolfgang zu "Kunstfertigkeit" schreibt, finde ich fantastisch.
ich finde es, unabhängig davon, ob man es musikalisch schön findet oder
nicht, es sehr nützlich, polyphonen Obertongesang zu lernen. einfach
auch als "Etüde" gewissermaßen, weil es in jedem Fall die eigenen
Möglichkeiten sehr erweitert.
es braucht meiner Ansicht nach beides, technische Virtuosität, und eine
individuelle, schöne, neue, Klang-Reiche-, Musik der Obertöne. Und die
Inspiration der einzelnen Sänger, und das aufeinander hören, aufeinander
eingehen, was eigentlich selbstverständlich sein sollte.
mir gibt das polyphone Obertonsingen noch viel mehr Möglichkeiten, mehr
Vorstellung im Kopf, durch das Üben des polyphonen Singens und das
Ausprobieren, was diesbezüglich funktioniert oder nicht, habe ich ein
Gefühl bekommen, wie es funktioniert, eine Vorstellung, sodass ich auch
in der Improvisation schon bevor ich singe genau weiß, wo ich den
Grundton hin verändern kann, dass es gut klingt, oder was ich nicht
machen darf, weil es nicht passt.
es würde mich sehr reizen, mit anderen guten Obertonsängern gemeinsam in
die polyphone Improvisation zu gehen. gemeinsame Obertonimprovisation,
wo "Tönen" auf hohem Niveau möglicherweise drin vorkommt, es aber auch
über das reine Tönen hinausgeht.
aber das benötigt vermutlich viel Übung und viel Einstimmung,
Eingewöhnung aufeinander.
ich denke auch, es benötigt eine eigene Musik der Obertöne, einen
eigenen musikalischen Stil, der sich entwickeln wird. polyphone
Kompositionen im Stil bereits vorhandener Musik sind für mich sehr
interessant, aber ich sehe nicht die Zukunft der Obertöne darin.
auch sind es für mich zwei Paar Stiefeln, was auf der Bühne interessant
ist, und das Tönen, was ich gewissermaßen in "pädagogische Arbeit" oder
"Selbsterfahrung/ Gruppenerfahrung" eingliedern würde.
anbei für euch, weil ich vermute, dass nicht alle von euch in Stuarts
Verteiler sind, eine Email von ihm, die ich gestern bekommen habe.
Dear friends and overtone singing aficianados,
Very soon I will be announcing the release of my new solo album,
/Canyons and Sky/, and my book on polyphonic overtone sing/i/ng, An
Overtone Experience. The book, published in both German and English by
Traumzeit Verlag, is a complete method for polyphonic overtone singing
featuring lessons, exercises for practice, and 15 "songs" suitable for
performance, with demo audio files recorded by me.
Meanwhile, please enjoy the attached recording. It is one of a group of
pieces I have been working on for multiple polyphonic singers. More and
more people are taking their overtone singing to a higher level, and I
certainly want to encourage that trend by making quality materials
available.
Keep in touch and keep singing! Sh
liebe Grüße, und schöne Ostern an euch alle!
Anna-Maria
Gisbert
Bodo Maass:
Hallo Gisbert, Wolfgang, Anna-Maria, und die anderen,
Ich finde den Gedanken zutreffend, daß polyphone Solo-Oberton-Stücke von
anderen als Zirkusnummer bestaunt, aber nicht ernstgenommen werden. Ich
sehe diese Stücke auch mehr als Übung, die allerdings enorm viel bringt.
Aber eben nicht als Musik, die man nicht-Obertönis vorführen kann.
Es würde mir schwerfallen, musikästhetische Kriterien in Bezug auf das
was mir gefällt zu formalisieren. Mein "Test" ist jedoch ein ganz
einfacher: Musik muss mich berühren. Es gibt ein paar Gesangs-Aufnahmen,
bei denen mir jedesmal, wenn ich sie höre, ein Schauer den Rücken
runterläuft, und mir Tränen in den Augen kommen. Es gibt nur wenig
Sänger oder Stücke, die diesen Effekt auf mich haben. Polyphoner
Solo-Obertongesang gehört gar nicht dazu. Um mich zu berühren muss der
Sänger oder die Sängerin sich öffnen, und etwas von sich preisgeben. Am
meisten berührt mich, wenn die Sängerin in sich in ihrer Verletzlichkeit
zeigt und den Mut hat, dieses auf der Bühne zuzugeben, und wenn sie
dennoch die Kraft hat, ihre Stimme zu öffnen und alles zu geben.
Obertongesang filtert viel aus der Stimme heraus und kann daher auch
eine Möglichkeit sein, weniger von sich zu zeigen. Allerdings gibt es
auch Obertonstücke die mich sehr berühren, nur eben meist keine Solos.
Ich finde die Mischung von normalen Sängern und Obertonsängern sehr
spannend. Es gibt ein Stück mit klassischem Chor + Obertonsolist, das
mir jedesmal Tränen in die Augen gebracht hat.
Und die Aufnahmen von unserer Gruppenimprovisation vom letzten
Wochenende hab ich in den letzten Tagen mehreren Leuten vorgespielt, und
alle haben stark darauf reagiert. Vielleicht nicht im Sinne von Tränen
in den Augen, aber doch so, daß die Gesänge eine starke Wirkung auf sie
ausübten, derer man sich kaum entziehen kann.
Die für mich schönsten Obertonstücke sind eher einfach komponiert und
begeistern durch ihren Klang, nicht durch die Komplexität der
Komposition, die für ungeübte Hörer eh kaum nachvollziehbar ist.
Und nach meinem ästhetischen Empfinden werden sie eben am besten mit
normalem Gesang kombiniert.
Liebe Grüße,
Bodo
Wolfhard Barke:
Liebe Obertongemeinschaft,
ich finde die bisherigen Gedanken alle sehr, sehr interessant und ich schließe mich besonders Bodos Meinung an, dass es in der Musik letztlich darauf ankommt, die Seelen oder Herzen der Menschen zu berühren.Nun stellt sich die Frage, ob oder wann Obertongesang berühren kann.Ganz zu Anfang, als ich die ersten Obertönchen singen konnte und ganz stolz darauf war, habe ich vor einem kleinen Auditorium meine erste kleine musikalische Darbietung gebracht.Trotz meines beschränkten Könnens habe ich aus tiefstem Herzen gesungen und habe die meisten der Zuhören so tief berührt, dass dabei sogar Tränen flossen.Heute, wo ich schon viel virtuoser mit der Stimme umgehen kann, sehe ich diese tiefe Berührung eher selten. Nur wenn ich "leise" werde, nicht an meinem Limit musiziere und meine Seele singen lasse, kann ich einerseits in mir ein tiefes Glücksgefühl empfinden und sehe dann auch die gleiche Reaktion be meinen Zuhörern.Die "Zirkusnummern" werden von meinen Zuhörern oft bestaunt aber die Seelenberührung bleibt dabei oft auf der Strecke. Sollte man deshalb im Anfängerstadium verharren und nur die Seele sprechen lassen? ... Ich denke nein. Ich erlebe dies gerade beim Erlernen des Spiels auf der Oboe. Vor einem Jahr hat mich ein virtuoser Oboen-Spieler so tief in meiner Seele berührt, dass ich mich dazu entschloss, diese Instrument zu erlernen. Seit einem Jahr übe ich fleißig jeden Tag. Da die Oboe ein sehr schwer zu erlernendes Instrument ist, braucht es einige Jahre bis man dieses Instrument einigermaßen beherrscht. Derzeit bin ich noch nicht in der Lage, etwas "Berührendes" auf dem Instrument zu produzieren, da ich noch zu sehr mit den "kleinen Zirkusnummmern" wie Tonleitern und immer wieder kehrende Etüden etc. beschäftigt bin. Erst dann, wenn die "Zirkusnummern" zum Selbstverständnis werden, kann auch die Seele wieder lauter werden. Auf unsere Stimme bezogen glaube ich, dass auch diese ein Instrument ist, das ebenso erlernt werden muss.
Je größer die Erfahrungen mit diesem Instrument sind, umso virtuoser kann man es spielen und umso einfacher und selbstverständlicher wird es, die Seele dabei sprechen zu lassen. ... Es sei denn, man singt am Limit seines Können und ist so auf seine "Zirkusnummer" konzentriert, dass sich der Seelenklang nicht ausbreiten kann. Dies halte ich für den wichtigsten Aspekt in Bezug darauf, ob Musik berührt oder nicht. Die Beschäftigung z. B. mit dem polyphonen Obertongesang erweitert unseren musikalischen Horizont bzw. unser Limit wie auch beim Erlernen eines Instrumentes. Aus reiner Seelenberührung mit Klang, wie z.B. beim Tönen, könnte sich Seelenberührung mit virtuoser Musik entwickeln, aber nur dann, wenn wir nicht am Limit unseres Leistungsvermögens musizieren. Ein weiterer Aspekt ist die Vielfältigkeit des Umgangs mit der Stimme. Die Stimme kann weitaus mehr, als "nur" virtuose polyphone Obertöne produzieren. Für mich liegt der Reiz in der Kombination der verschiedenen Stimmtechniken aus Obertongesang, klassischem Gesang, Sprechgesang oder nur einfaches Sprechen in einer Fantasiesprache, Stimmgeräuschen etc., die das Ganze zu facettenreichen Kompositionen werden lässt. Deshalb unterstütze ich jede Art von Weiterentwicklung, die unsere Begrenztheit immer weiter auflöst.
Ich freue mich sehr, diesen wunderbaren Weg mit Euch gemeinsam gehen zu dürfen.
Klangvolle Grüße
Wolfhard Barke
http://www.obertoene.com
Sylvia Brese:
Hallo all Ihr Lieben zusammen,
ich als Neuankömmling in der Obertonszenerie kann nicht wirklich viel dazu beitragen. Möchte aber dazu sagen, daß mich auch Bodos Feedback sehr angesprochen und berührt hat. Aufbauend darauf rundet der Standpunkt von Wolfhard das Ganze für mich ab.
Und mein großer persönlich Wunsch ist , daß es irgendwann eine Bühne gibt für alle. Sowohl für den Auftritt von Mongloiden Kindern sowie virtuosen Künstlern, die gegenseitig ihre Seele berühren.
Alles Liebe und ich freue mich, Euch bald wiederzusehen,
Sylvia
Liebe Overtone Musik Networker,
sehr interessantes thema, tolle beiträge und ideen! Danke!
was mich schon länger beschäftigt - ich weiß garnicht ob ich das jetzt so schnell in gute worte gefasst kriege - hat mit etwas zu tun das hier schon mehrfach aufgetaucht ist: dass obertonsingen oft etwas unpersönliches, vielleicht auch überpersönliches, oder auch "technisches" hat.. mir ist aufgefallen, dass "verfremdungen" oder veränderungen des gesungenen oder gesprochenen tones, verengungen, mitschwingen anderer teile der physiologie, wie taschenfalten, "druck" und ähnliches auf zwei ganz entgegen gesetzte arten einsetzbar sind: man kann die stimme verstellen, rauh machen, eingeschnürt, traurig, weinerlich klingen lassen um damit gefühl auszudrücken, dann ist wiederstand, geräusch, mitschwingendes, klangfarbenänderung ausdruck persönlichen gefühls, oft auch von leid...
blues, rocksänger, luis armstrong, deathmetal.. tom waits... "schreisingende" prediger scharzer kirchengemeinden...
wenn man ober und untertongesangstechniken zusammen nimmt, kommen physiologisch sehr ähnliche dinge vor, nur dass man bei einem ganz entgegengestzten "unpersönlichen" ausdruck landet, etwas "objektivem", das eher mit landschaft zu tun hat, mit wind, mit steppe, oder mit analogmodems, elektonik, oder mit geistern, oder mit zahlentheorie.. die obertonreihe hat ja sehr viel mit zahlen zu tun, "ist" geradezu zahlen, zahlentheorie... etwas universelles, "abstraktes", das aber faszinierender weise doch auch"fühlbar", "empfindbar" ist.. in der teiltonreihe sehe ich auch einen knotenpunkt, zwischen sehr vielem: wo unsere tonleitern, intervalle und stimmungen letztendlich herstammen, physik, klangfarben, zahlentheorie, auch tonsatzregeln haben hier ihren "ursprung"... für manche leute ist die obertonreihe aber eher natur, unterbewusstsein, meditation, esoterisch.. das sind aber nur zwei verschiedene - oder sogar entgegengesetzte - arten das selbe anzusehen/zu verstehen/ zu deuten..
die teiltonreihe ist ja gerade so eine art "scharnier" wo all das zusammenhängt...
kennt ihr Demetrio Stratos?
der englische wikipedia artikel über ihn ist gut: http://en.wikipedia.org/wiki/Demetrio_Stratos
ab "Phonetics research studies" stehen die interessantesten dinge: er wollte "to free vocal expression from the slavery of language and pretty melodies" weil er an seiner tochter beobachtet hatte dass kinder dinge mit der stimme machen die mit dem erlernen der begrifflichen sprache und dem singen schöner melodien weitgehend verloren gehen. dass da ausdrucksmöglichkeiten sind die wir "verlieren".. man kann sagen dass die veränderungen oder verfremdungen der stimme um gefühle auszudrücken schon eine art wiedergewinn einiger dieser möglichkeiten ist.. auch ober und untertongesangstechnicken, oder kehlgesänge der inuit, oder überhaupt jede art zu singen die bei uns traditionel nicht unserem schöhnheitsideal entspricht... Demetrio Stratos sieht im obertongesang etwas das mit dem unterbewusstsein verbunden ist... das macht nur sinn wenn es obertongesang als eine klangfarbe, ein bild ist.. als kunststück ist es im grunde dann wieder so etwas wie die "slavery of language and pretty melodies"...
jetzt hab ich ein rechtes durcheinander hier geschrieben, ich hoffe ihr könnt etwas damit anfangen...
gerade bin ich galub zu müde und schreibe dann nur unsinn, desshalb hör ich hier mal auf, obwohl es noch dinge gibt die ich vielleicht ein andermal zu schreiben versuch.
liebe grüße,
david
Hallo David,
interessant was Du schreibst, für mich nachvollziehbar trotz müdem Schreiber :)
Gruß,
Gisbert
Hallo Gisbert und alle, die zum spannenden Thema beigetragen haben.
Ich finde das Nachdenken über die Ästhetik des Obertonsingens absolut spannend, und da ist auch schon viel Anregendes gesagt worden.
Ich stimme überein, dass reiner polyphoner Obertongesang, der technisch perfekt vorgetragen wird, schnell langweilt und in eine Sackgasse führen kann. Wenn wir etwa zum Ziel hätten, die Obertöne so laut und klar wie möglich zu produzieren und am liebsten den Grundton dabei verschwinden lassen wollten, dann können wir auch gleich pfeifen. Ich habe mal einen ungarischen Pfeifmeister Mozart-Sonaten pfeiffen hören: Die Faszination des Gehörten (und der pefekten Pfeiftechnik) wich nach wenigen Minuten gähnender Langweile.
Ein Oberton hat ja etwas Transpersonales, weil er selber keine mehr hat, die ihm Farbe geben könnten. Die Kommunikation auf dieser transzendentalen Ebene hat durchaus ihren Reiz, weil sie universell gilt. Was die Menschen aber berührt, ist immer der persönliche Stimmklang einer Person, und der bildet sich bekanntllich aus einem Bündel von Obertönen.
Der Reiz liegt für mich in der Kombination und dem Ausbalancieren von beidem, Grundton (samt Klangfarben) und angebundener bis isolierter Oberton. Das angebundene, vokalische Obertonsingen nennt Michael Vetter "implizites" Obertonsingen. Es bleibt immer nahe an gesungener Sprache, die aber sehr obertönig erklingt. Allein damit gibt es ja schon viele künstlerische Ausdrucksmöglichkeiten. "Explizites" Obertonsingen wäre dann das, was wir mit bird-Technik (Vetter) oder Zungentechnik produzieren und was uns erlaubt, den gemeinten Oberton besser zu isolieren.
Wenn ich nicht mit der "Tür ins Haus fallen" will, dann würde ich eine Improvisation nicht gleich mit der expliziten Technik anfangen. Ich erinnere mich noch, wie berührt ich war, als ich zum ersten mal das erst Stück von David Hykes auf seiner Platte Harmonic Meetings gehört hatte: etliche Minuten langsamen vokalisches Wandern durch eine indisch klingtende Skala mit viel offenem o-Klang, dann plötzlich öffenen sich die Obertöne und fangen zu leuchten an. Das hat mich damals umgehauen und ich habe selten wieder so schönen Obertongesang gehört. Ein Klang, der sich nicht aufdrängt, sondern allmählich sich aufbaut und entsteht, ähnlich dem Alap eines gesungenen Raga.
Bei einem kürzlichen Konzert in einer Kirche sagte mir eine Zuhörein im Anschluss, es hätte sie fasziniert und berührt, die Schwingungen und Vibrationen des Grundtones auch im den Obertönen wahrzunehmen. Sie hat also beides zusammen gehört und wahrgenommen. Als "geübte" Obertonsänger wissen wir ja, wie hilfreich es sein kann, wenn wir - gerade bei polyphonen Stücken - die Obertonmelodie beim Singen genaus so deutlich hören wie die Grundtonmeldodie. Dann fällt die O(h)rientierung leichter, wenn wir beides bewusst wahrnehmen.
Der Zuhörer ist aber zumeist ungeübt in solcher Wahrnehmung, er nimmt die Obertöne vielleicht tatsächlich mehrheitlich im Unterbewusstsein (Stratos) war, und dann wider plötzlich als klare Töne (denen Konzertbesucher ja gerne die versteckte Flöte zuordnen). Ich habe schon öfter bemerkt, dass Obertöne bei Frauenstimmen von Zuhörern oft nicht so deutlich wahrgenommen werden wie bei Männerstimmen (auch wenn sie objektiv genau so deutlich gesungen werden). Das mag am kleineren Abstand zwischen Grundton und OT liegen. Ungeachtet dessen berührt die Musik aber genaus so: Musik ist immer ein Mysterium, weil sie subjektiv so verschieden wahrgenommen wird. Beim Obertongesang scheint jedenfalls die Verbindung von bewusst und unbewusst Wahrgenommenen, von Personalem und Transzendenten ein Auslöser für Berührung zu sein.
Wenn Obertöne als Mittel benutzt werden, entweder um eine faszinierende Technik zu zeigen oder um das Dogma zu untermauern, dass nur die Naturtonreihe den Menschen Heilung bringt, dann interessiert es mich nicht, weil die zweite - und eigentlch wichtigere, weil elementarere Hälfte - fehlt, nämlich der persönliche stimmliche Ausdruck des/der Singenden. (Unschön wird es dann, wenn der Klang der Grundstimme zugunsten eines lauten Obertons durch unnötigen Druck geradezu vergewaltigt wird) . Alles braucht seinen Gegenpol, so braucht auch die Konsonanz ihre Dissonanz, das Glatte das Rauhe, das Meditative das Experiementelle, das Ying das Yang. In diesem Kontext dürfen Obertöne mal instumental, mal "menschlich" klingen, im Duo oder Ensemble mal explizit mit einer "normal" gesungenen Stimme zusammen klingend und mit ihr "konkurrierend", mal nur als Farbe den Gesamtklang ergänzen.
Vielleicht müssen wir uns auch noch einmal klar machen, dass es physikalisch gesehen ohnehin nie ohne Obertöne geht - jede Stimme hat sie. Dann können wir die Obertöne auch von ihrem manchmal ihnen anhaftenden elitären Sockel runterholen und in die unendlichen Ausdrucksmöglichkeiten der "vox humana" einsortieren.
liebe Grüße
Lothar
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